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Interview mit Prof. Dr. Brigitte Witzer – Executive Coaching – options//perspectives

Prof. Dr. Brigitte Witzer Executive Coaching options//perspectivesWer ist Brigitte Witzer? Bitte stell Dich doch mal kurz vor.

Ich arbeite als Coach, Autorin und Rednerin und schätze die Chancen, die in Risiken stecken: Obwohl Mathe mir am meisten Freude machte, habe ich Geisteswissenschaften studiert („brotlose Kunst“). Dann ging ich zu Data Becker, einen Computerbuchverlag („Ob sich Computer durchsetzen?“). Von der technischen Verlagsleiterin mit großen Freiheiten wechselte ich zu Bertelsmann, nach Gütersloh und tauschte Unternehmertum gegen Corporate Life. Mit Erfolg: ich wurde 1992 erste weibliche Geschäftsführerin („Marktöffnung Osteuropa“). Danach Hochschule und Professur, Gründung eines damals noch ganz unbekannten Studiengangs Medientechnik in Leipzig. Kurz vorm 40. Geburtstag, also 1998, Entbeamtung auf eigenen Wunsch („Hochschule funktioniert nur in den Semesterferien“). Seitdem Coach, Beraterin und Sachbuchautorin. Letztes Buch „Die Diktatur der Dummen“ 2014. Das neue Buch: „Die Fleißlüge“ erscheint am 21.  September 2015.

Damit wir Dich nicht nur aus beruflichem Blickwinkel kennenlernen, verrate uns doch auch einen kleinen Spleen von Dir.

Die Tendenz, nüchtern und genau hinzusehen. Beispielsweise glauben viele Leute, viel Quantität (z.B. Geld) würde irgendwann quasi automatisch in Qualität (z.B. gutes Leben) umschlagen. Das ist aber per se nie der Fall. Qualität erfordert ganz andere Kenntnisse (z.B. wie führe ich ein gutes Leben?), die nichts mit Quantität zu tun haben. Solchen Verwechselungen gehe ich nach und eben nicht mehr auf den Leim. Außerdem habe ich die hartnäckige Tendenz, mich auf eigenes Erfahrungswissen zu verlassen – das treibt meine Bücher und mich.

Elevator Pitch! Was macht Eure Firma? Und vor allem: was macht ihr am besten, wo liegt Eure Superpower?

Ich spreche von der Fleißlüge, wenn es recht ist:

Ich habe festgestellt, dass Frauen (aber auch zunehmend Männer) mit genau den gleichen Tugenden in der Wirtschaft erfolgreich sein wollen wie schon ihre Mütter und Großmütter: mit Fleiß. Aber ganz ehrlich: Hat man aber schon jemals von einem mächtigen Mann an der Spitze eines Unternehmens oder eines Staates gehört, von dem kolportiert würde, er sei fleißig?

Richtig ist: Fleiß bringt zügig ins mittlere Management, aber nicht weiter. Die Spielregeln der Macht sind oft genug unbekannt (Männern wie Frauen) und werden auch nicht thematisiert.

Fleiß hat den Effekt, dass man sich mit ihm durch jedes Thema durchfräsen kann, bis man es endlich dominiert. Das haben jahrhundertelang Frauen mit einem total uninteressanten Haushalt gemacht, das machen sie heute in Anwaltskanzleien, an Hochschulen, in Konzernen. Sie arbeiten erfolgreichen Männern zu und putzen die Gläserne Decke…

Fleiß ist zwar eine deutsche Tugend, aber leider überhaupt nichts Gutes, im Gegenteil: Mit Fleiß verlieren wir den Kontakt zu uns und zu anderen. Wir vergessen unsere Potenziale und Talente, wir arbeiten (fleißig) vor uns hin, werden gelobt – und landen im mittleren Management. Und von uns selbst wissen wir im Zweifelsfalle: gar nichts.

Apropos Superpower: Verrätst Du uns ein „Best Practice“ Beispiel Deiner Firma, wo ihr besonders erfolgreich wart? Was waren Deiner Meinung nach die Erfolgsfaktoren?

Ich persönlich war immer da erfolgreich, wo ich mich nicht habe verführen lassen. Etwa bei Data Becker: ich bin den Computern zwar neugierig und interessiert gefolgt, habe Computersprachen gelernt und etwas programmieren, aber es hat mich nicht gefangen. So konnte ich gute  Entscheidungen treffen, ich hing quasi eben nicht  „an der Nadel“. Das scheint mir hilfreich für alle, die persönlichen Erfolg suchen: Etwas tun, was Freude macht, aber unbedingt nüchtern bleiben, nicht darin ertrinken!

Wie lebt ihr Digitalisierung in Eurem Unternehmen? In welchem Bereich habt ihr Digitalisierung erfolgreich um- oder eingesetzt?

Digitalisierung steht einerseits dafür, dass ich mich als Mensch noch mehr nach Technik richten muss als bisher (versuchen Sie mal als „Küchenfremder“, meinen Induktionsherd zu bedienen – werden Sie kaum schaffen), andererseits liefert sie zunächst einmal nur die Öffnung der Wirtschaft für neue Bedarfe. Aber bislang keinen qualitativer Wandel! Im Gegenteil, Selbstausbeutungstendenzen und andere Kontroll-Illusionen wie Mikromanagement nehmen eher zu…

Wenn Du Dir die Netzwirtschaft insgesamt, Euren Markt, Eure Firma, Deine Position ansiehst, was werden die Haupt-Herausforderungen in den nächsten Monaten oder Jahren sein?

Digitalisierung verjüngt die Wirtschaft, aber sie verändert die Gesellschaft nicht positiv: Wir werden immer abhängiger von Produkten, die wir heute gar nicht mehr besitzen müssen, wie uns die Sharing-Ökonomie zeigt, aber ebenso von all den kleinen Helfern, wie etwa dem Navi + Co. – die alle vor allem eines sicherstellen: dass wir uns selbst nicht mehr zu helfen wissen. Ja, wir müssen uns überhaupt gar nicht mehr ins Spiel bringen. Schade, dass unser Hirn brach herumvagabundiert!

Herausforderung für die Netzwirtschaft in Deutschland / Europa:

Der Mensch mit seinen Bedürfnissen kommt zu kurz. Wie die digitale Wirtschaft da helfen könnte? Indem sie statt der schnell skalierbaren quantitativen Konzepte ihr Heil in den qualitativen Konzepten sucht – sich also damit zum Diener des Menschen macht. Die aktuelle Situation (wir müssen uns nach der Technik richten) würde ich gern umgedreht sehen. Die Chance ist jedenfalls da!

Was hat Dich bisher am meisten am Internet geärgert, was am meisten gefreut?

Mich ärgert, dass Wissen mit Information verwechselt wird, beispielsweise. Dass ein männerlastiges, halbsolides Unternehmen wie Wikipedia die Differenziertheit transparent gesammelter Daten (Brockhaus + Co.) aus dem Feld schlägt.

Mich freut, dass ich bei leo.org schnell mal nachschauen kann, was auf der französischen Speisekarte denn jetzt bitte „steak haché“ sein könnte.

Welches „Problem“ (privat oder im Unternehmen) würdest DU gerne von einem Start-up gelöst bekommen?

Mich würde ein qualitativ ausgerichtetes Start-up interessieren, das weg von quantitativen Kriterien wie Sternen, Zertifikaten oder Likes mit soliden Beschreibungen (ähnlich wie bei der Weinverkostung) beispielsweise Hotels bewertet – so, dass ich mir wirklich eine Meinung bilden kann. Im Moment erfahre ich über die Bewertungen mehr über den Bewerter als über den Gegenstand der Bewertung.

Gib uns doch bitte eine Empfehlung für…

einen Artikel, der Dich in der letzten Zeit am meisten begeistert hat

Ein Artikel in DER ZEIT von Bernhard Pörksen zur fehlenden Stimme deutscher Profs in der gesellschaftlichen Debatte.

http://www.zeit.de/2015/31/wissenschaft-professoren-engagement-oekonomie

ein spannendes Buch, das Dich für Dein Business inspiriert hat

Dirk Baecker: Postheroisches Management. Ein Vademecum. Merve-Verlag, Berlin. (von 1992, aber immer noch super aktuell – jeweils 3 Seiten zu einem Wirtschaftsthema)

das hilfreichste Tool / die hilfreichste Software für Deine Arbeit

Dialoge mit meiner Senior-Kollegin, in der ich meine Überlegungen und Gedanken kläre und „ver-nüchterne“, wenn die Euphorie mal hochschwappt.

Mit welchem Experten würdest Du am liebsten einmal 1 Tag zusammenarbeiten, und warum? Oder von welchem Experten aus Deinem Fachgebiet hast Du bisher am meisten gelernt?

Ich habe am meisten von Leuten gelernt, die mir beim Reflektieren dessen geholfen haben, was mir im Leben begegnet und geschehen ist. Das waren mal tolle Coaches, mal die Kinder meiner Schwester, mal meine Kunden. Ehrlich gesagt, ich würde gern einen Tag bei Gandhi mehr über Widerstandslosigkeit lernen.